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Kasseler Circusfestival - 2010
www.circusfestival-kassel.de

Kassel, 18. Dezember 2010: Am 27. Juni 2010 gab Flic Flac in Oberhausen seine (vorerst) letzte Vorstellung. Dass es weiterhin das „Festival der besten Artisten“ in Kassel geben würde, war bereits damals klar. Nun steht wieder einer der gelb-schwarz gestreiften Viermaster mit hoher Kuppel auf dem Friedrichsplatz mitten in der Kasseler Innenstadt. Natürlich gibt es keine vom Opening bis zum Finale durchdachte Flic-Flac-Show zu sehen. Das Flic-Flac-Logo ist allerdings an vielen Stellen präsent. Etwa auf der Homepage, den Plakaten und den Eintrittskarten. Wenn zum Opening alle Artisten auf der runden Drehbühne agieren, dann sieht man die Flic-Flac-Handschrift deutlich.

Ebenso beim Finale, wenn mittels Gebläse Klopapierrollen abgewickelt werden und die Papierbahnen ins Publikum fliegen. Auch Ambiente und Lichtdesign erinnern an „alte Zeiten“, die doch erst ein knappes halbes Jahr her sind. Mit Tatjana Kastein, Alexander Xelo, Yulia Galenchyk und dem Duo Vanegas sind fünf Lieblinge aus den vergangenen Flic Flac-Jahren im Programm. Wie von Flic Flac gewohnt, sind (nahezu) alle engagierten Darbietungen von hoher Qualität und geben so zusammen ein äußerst starkes Programm ab, Nervenkitzel inklusive.


Alain Alegria, Yulia Galenchyk, Duo Vanegas

Dafür sorgt gleich zu Beginn Alain Alegria, der mit seinem Washington-Trapez bis ganz unter die Kuppel gezogen wird und somit in außergewöhnlich großer Höhe arbeitet. Seine Balancen auf dem ruhenden und schwingenden Trapez sind ohnehin sehr riskant. Durch die große Entfernung zum Boden wird der Effekt nochmals gesteigert. Die Zuschauer sind so von Anfang an mit großer Begeisterung dabei. Ein hohes Risiko gehen auch die beiden Kolumbianer des Duo Vanegas ein. Auf ihrem Todesrad drehen sie aberwitzige Runden. Gekrönt wird ihre Arbeit von dem zweimal gezeigten Salto auf dem rotierenden Außenrad. Wenngleich die Arbeit auf mich im kleineren Chapiteau des Cirque Alexandre Bouglione kürzlich noch intensiver gewirkt hat, geht das Publikum auch in Kassel enorm mit. Effektvoll, aber nicht ganz so gefährlich da mittels Longen gesichert, ist die Kür des Duo Pisarev am Trapez. Er trägt zum weißen Hemd eine zerrissene Jeans, sie ein weißes Kleid, dazu erklingt düstere Musik. Die Anpassung der Präsentation auf Flic Flac ist unübersehbar. Bereits in der letzten Produktion „ARTgerecht“ dort zu sehen war Yulia Galenchyk. Mit ihrer Arbeit am Netz, das sie wie Vertikaltücher in verschiedenen Varianten einsetzt, begibt auch sie sich unter die Kuppel des Chapiteau, um dort mit ihren elegant gearbeiteten Tricks zu begeistern.


Truppe Borzovi, Peking-Truppe, Truppe Ruban

Die Riege der Luftnummer wird von den Borzovi komplettiert. Die acht Russen haben wir seit 1995 beim Circus Krone erleben dürfen. Zunächst noch innovativ, spektakulär, wurde daraus zum Schluss eine normale Flugtrapeznummer, zu der der opulente, bombastische Verkauf nicht mehr so recht passen wollte. In Kassel nun präsentieren sich die acht Russen mit neuem Schwung. Der Beginn ihrer Show erinnert an ihre Ursprungsnummer, wenn nämlich eine Artistin mit einem Ring um die Hüfte von oben nach unten schwebt und eine Kollegin unter die Kuppel befördert. Der Fangstuhl über dem Flugtrapez wird nur am Beginn kurz genutzt, von der russischen Schaukel gibt es einen langen Sprung. Ansonsten wird das Repertoire einer guten Flugtrapeznummer gezeigt, Dreifacher inklusive. Die Passage gibt es leider nicht. Das alles wurde im Gegensatz zu ihren letzten Auftritten bei Krone flotter vorgetragen. Dazu weiße Kostüme mit Neon-Applikationen und Musik im bekannten Borzovi-Stil. Neben den Borzovi beinhaltet das Programm zwei weitere große Truppen. Die Ruban präsentieren ihre Schleuderbrett-Artistik höchst ungewöhnlich im Disko-Stil der 1970er Jahre. Die neun jungen Artisten, eine Dame inklusive, katapultieren sich in bunten Fransenkostümen mit Schlaghosen zu „Dancing Queen“ von Abba und weiteren Diskoknallern wie “Daddy Cool“ durch die Luft. Dazwischen machen sie Seifenblasen, während aus den Lautsprechern „Thank you for the music“ erklingt. Artistisch glänzen sie vor allen Dingen durch sehr hohe Sprünge mit zig Salti, welche auf einer Matte gelandet werden. Sprünge, die auf einem Menschenturm gefangen werden, haben sie ebenfalls im Repertoire. Ganz klassisch im Verkauf agieren hingegen die zwölf Mitglieder der „Peking Truppe“ mit ihrer Schalenpagode. Die Chinesen beenden das Programm mit ihren schier unglaublichen Handvoltigen, wobei die Mädchen während der Sprünge von Partner zu Partner kleine Schälchen mit den Füßen balancieren. Stimmungsvoll ergänzt werden die großen Szenen der gesamten Truppe von der Equilibristik eines Paares.
 


Stand Flights

Zu fünft präsentieren sich die Utkin am Quadratreck. Die kraftvollen Sprünge werden sicher ausgeführt. Etwas wackeliger erscheinen da die Menschenpyramiden und Handvoltigen der vier „Stand Flights“. Mit ähnlichen Formationen wie „Atlantis“ oder „Crazy flight“ können sie (noch) nicht ganz mithalten. Drei Solisten komplettieren den artistischen Bereich. Tatjana Kastein sorgt mit ihrer Equilibristik über einer Spiegelfläche für den ruhigsten, romantischsten Programmpunkt. Alexander Xelo nutzt geschickt den gesamten Raum bis unter die hohe Kuppel. Neben der Jonglage von vier Diabolos sorgt vor allen Dingen das Spiel im Dunkel mit zwei beleuchteten Diabolos für hörbare Begeisterung auf den steil abfallenden Rängen. Nicht ganz in den Rahmen passen mag die Kür auf dem Drahtseil von Kilian Caso. Seine Nummer, bei der er zunächst die rote Clownsnase am Seil abstreift, ist zu verkopft angelegt. Artistisch legt er gleich mit einem Rückwärtssalto, was hohe Erwartungen für den Rest seiner Show weckt. Es folgt unter anderem Seiltanz sowie ein kraftvoll gesprungener Flic Flac. Doch den Vorwärtssalto steht der junge Franzose an diesem Nachmittag nicht. Weitaus besser meinen Geschmack trifft Justin Case. Der australische Komiker hat es mit den Fahrrädern. Einen Drahtesel in Originalgröße zerlegt er und baut ihn in den aberwitzigsten - aber voll fahrtüchtigen - Kombinationen wieder zusammen.


Alexander Xelo, Justin Case, Tatjana Kastein

Auch ein Freiwilliger aus dem Publikum muss als lebendes Hindernis herhalten, wobei er von Case in einer herrlichen Mischung aus Englisch und abgelesenem Deutsch auf die Bühne gebeten wird. Den größten Applaus erhält er aber für seine Touren auf winzigsten Fahrrädern mit und ohne Feuer-Effekten. Ebenfalls für Erheiterung soll Parodist und Comedian Christian Schiffer sorgen. Er imitiert Promis wie Angela Merkel, Franz Beckenbauer oder Oliver Kahn. Wen er da gerade nachmacht, wird oftmals erst durch die Inhalte seiner Stand ups klar, nicht durch die Stimme selbst. Ich fand seine Auftritte nur bedingt witzig, kein Vergleich jedenfalls zu Dave Davis im Vorjahr. Schiffer hat zudem die Aufgabe, Flic Flac-Basecaps ins Publikum zu werfen und so die Mitglieder der Jury zu bestimmen. Denn die drei Preisträger dieses Festivals werden wiederum von den Zuschauern gewählt. Und das ist auch in diesem Jahr wieder keine leichte Aufgabe. Nahezu alle Nummern bewegen sich auf höchstem Niveau. Hinzu kommen viele sympathische Artisten. Ich jedenfalls bin sehr gespannt, wer am Ende zu den Publikumslieblingen gehört.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch