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Cirque Alexis Gruss - Empreintes 2011
www.alexis-gruss.com

Paris, 3. Dezember 2011: Zwei gänzlich verschiedene Programmhälften präsentiert der Cirque National Alexis Gruss in seiner Produktion „Empreintes“ („Fußspuren“): Vor der Pause lässt die Circusfamilie Gruss die Ursprünge des Circus wieder aufleben, werden vielfältige Facetten der Pferdedressur und Reitkunst präsentiert, fühlt man sich in die Zeit Philip Astleys versetzt. Nach der Pause folgt hingegen ein rein artistisches Programm, das ästhetisch durchaus Bezüge zum Cirque Arlette Gruss oder zu Flic Flac nimmt und das mit rockiger Musik, farbenfrohem Licht und aufwendigen Requisiten überrascht.

Jahr für Jahr erarbeitet das Ensemble des Cirque National Alexis Gruss an seinem Stammsitz in Piolenc (Südfrankreich) vom Frühjahr bis zum Herbst die neue Produktion für das Wintergastspiel in der 650 Kilometer entfernten Hauptstadt Paris. Dort wurden nun wieder die schneeweißen Zeltanlagen im Wald und Park „Bois de Boulogne“ aufgeschlagen. Es sind bei Alexis Gruss fast ausschließlich drei Generationen der Familie, die in jedem Jahr mit neu gestalteten Nummern, zum großen Teil gar in wechselnden Disziplinen, aufwarten. Engagiert sind heuer nur Francesco Fratellini in der dritten und Anna Micheletyy in der zweiten Saison sowie das formidable zehnköpfige Orchester unter Sylvain Rolland. Nach zwei Jahren Pause ist Tochter Maud Florees (geb. Gruss) zum Unternehmen zurückgekehrt und hat ihren Mann Tony und Schwägerin Sarah mitgebracht, die beide nun erstmals in dieser Manege arbeiten. Man muss diesen Circus mit seinen immer neuen Programmen im Grunde in mehreren Saisons nacheinander sehen, um die ganze Kreativität und das volle Können zu entdecken, das sich hier entfaltet.


Stephan Gruss, Alexis Gruss, Francesco Fratellini

Die erste Hälfte des Programms ist also den Ursprüngen des Circus gewidmet, wie auch ein Sprecher aus dem Off erläutert. Die Zeitreise zurück in die Ära Philip Astleys verkörpert auch der gewaltige Kronleuchter über der Manegenmitte, der historischen Vorbildern nachempfunden ist. Wie sich die zirzensischen Pferdevorführungen aus der Militärreiterei entwickelt haben, so steht ein kurzes Konzert mit militärischer Marschmusik und Fahnenschwingern, welches das gesamte Ensemble in der Manege vereint, am Beginn der Show. Sogleich schließt sich eines der schönsten Bilder der ersten Hälfte an, das Karussell mit insgesamt 23 Pferden. In der Manegenmitte thront Seniorchefin Gipsy Gruss auf dem Rücken eines Pferdes auf einem Podest; musizierende Ensemblemitglieder und weiße Pferde mit den Vorderfüßen auf kleinen Podesten formen eine statische mittlere Bahn des Karussells. Davor und dahinter drehen zahlreiche Pferde auf zwei gegenläufigen Bahnen ihre Kreise. Gipsy (im Damensitz!) und Alexis Gruss sowie deren Tochter Maud und Schwiegersohn Tony reiten anschließend zunächst solistisch oder im Duett, dann auch zu viert anspruchsvolle Figuren der Hohen Schule. Ein Stoffpferd mit zwei menschlichen Akteuren als Innenleben sorgt für ein heiteres Zwischenspiel, ehe es dann wieder mit richtigen Vierbeinern weitergeht. Charles und Alexandre Gruss, die beiden ältesten Enkel von Alexis Gruss, präsentieren sich als elegante Jockeyreiter, gefolgt von ihrem Vater Stephan, der auf einem galoppierenden Pferd stehend über Hürden springt und dabei samt Pferd „Seil springt“. Gipsy Gruss präsentiert diese höchst anspruchsvolle Übung im Damensitz. Eine elegante Ballerina zu Pferd verkörpert Maud Florees, die hierbei elegant über Stoffbarrieren springt, unter denen Hengst Lisy hindurchläuft. Im Tüllröckchen und mit reichlich Haaren auf der Brust präsentiert sich anschließend eine sehr spezielle „Ballerina zu Pferd“, gespielt von Francesco Fratellini, die erst mutig scheint und dann, kurz vor der Stoffbarriere, doch lieber panisch abspringt und das Weite sucht. Komisch geht es weiter mit Elefantendame Syndha. Diesmal wird ein Herr – aus dem Mitarbeiterstab und nicht aus dem Publikum – in gar nicht zimperlicher Weise von ihr „rasiert“. Nicht zu aufbrausender Musik, wie es allgemein üblich ist, sondern zu musikalisch ganz leisen Tönen dirigiert Alexis Gruss verschiedene Steiger. Fünf schwere Pferde, sie arbeiten neben einigen anderen Tieren erstmals in der Gruss-Manege, darauf vier Herren und an der Spitze drei Damen formen eine equestrische Pyramide. Das Gruss-Ensemble zeigt dabei Figuren ähnlich wie bei einem Pas-de-deux zu Pferd, selbstverständlich alles unter dem Dirigat von Alexis Gruss. Mit einer rasanten Jockeyreiterei, ausgeführt von Firmin, Stephan, Charles und Alexandre Gruss, geht es in die Pause.


Ensemble, Firmin Grusa, Alexandre Gruss

Mit Marsch wurde der erste Programmteil eröffnet, ein Rockkonzert eröffnet den zweiten. Charles Gruss am Schlagzeug, sein Bruder Alexandre an der E-Gitarre, ihr Vater Stephan am elektronischen Schlagwerk und ihre Onkel Firmin und Tony an Trompete bzw. Posaune lassen es richtig krachen – damit ist der Programmabschnitt zum modernen Circus eröffnet, und Sarah Florres steuert als erste artistische Darbietung ihre anspruchsvolle Kontorsionskür bei. Eine große Schau ist die Einleitung der Mastennummer – da werden Anker mit dem Vorschlaghammer in den Boden getrieben, wird auf Graffiti-besprühten Tonnen getrommelt, wird geschweißt und rollt ein Traktor durch die Manege, und all dies verbindet sich mit dem Spiel des Orchesters zu einer außergewöhnlichen musikalischen Einlage. Stephan Gruss’ Ehefrau Nathalie und Francesco Fratellini sind dann die Akteure der Arbeit am Chinesischen Masten, den Francesco abschließend mit einem Salto verlässt. Verschiedene Disziplinen der Jonglage – mit bunten Luftballons, Hula Hoop-Reifen, einem Metall-Quadrat und Metallwürfeln – bilden dann ein buntes artistisches Tableau mit mehreren Akteuren. Ein Glanzlicht dieses Programmteils ist Firmin Gruss’ Arbeit auf der freistehenden Leiter. Nach Handstand und Jonglage mit fünf Keulen verlässt er das Requisit abschließend mit einem Rückwärtssalto zur Bodenmatte. Kraftvolle Übungen in und an einer großen Metallgitterkugel, deren Streben auch als eine Art Haltestuhl verwendet werden, präsentieren Nathalie Gruss und Anna Micheletty unter der Circuskuppel. Die Luftnummer markiert den Beginn einer Reise in den Weltraum, zu der das Ensemble in Astronautenanzügen aufbricht und mit Taschenlampen ein geheimnisvolles Lichterspiel zaubert.


Stephan, Charles und Alexandre Gruss, Tony Florees

Stephan, Alexandre und Charles Gruss sowie Tony Florees jonglieren auf einer Art Karussell, einem zweiarmigen und drehbaren Gestell. In immer neuen Kombinationen lassen die Akteure, in der besuchten Vorstellung leider mit einigen Patzern, die Keulen fliegen, während sich die Arme dieses Karussells heben und senken bzw. sich das gesamte Gerät dabei dreht. Zurück auf die Erde geht es im Finale, zu dem die Akteure auf Pferden in die Manege reiten. Auf reines Pferdetheater vor der Pause folgte eine artistische Reise in moderner Ästhetik im zweiten Teil, das zurückhaltende Theaterlicht der ersten Hälfte wurde abgelöst durch farbenfrohe Lichteffekte (mit neuer Technik!), Marschmusik und leisere Tönen gingen nahtlos über in lauten Rock, alles fantastisch und fein differenziert gespielt vom großen Orchester.

Das Programm zerfällt dennoch nicht in zwei Hälften, sondern hier verschmelzen zwei Teile zu einem Ganzen. Der Cirque National Alexis Gruss bewahrt Traditionen und Circusdisziplinen, die fast in Vergessenheit geraten sind, und setzt gleichzeitig auf Innovationen – lebendige Circuskultur, für die in der besuchten Vorstellung die vielen anwesenden Circusmacher und Circusfreunde aus mehreren Nationen, aber auch das sonstige Publikum im Stehen applaudierten.

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Text: Markus Moll; Fotos: Cirque National Alexis Gruss, K. El Dib