Jahr für
Jahr erarbeitet das Ensemble des Cirque National Alexis Gruss an
seinem Stammsitz in Piolenc (Südfrankreich) vom Frühjahr bis zum
Herbst die neue Produktion für das Wintergastspiel in der 650
Kilometer entfernten Hauptstadt Paris. Dort wurden nun wieder
die schneeweißen Zeltanlagen im Wald und Park „Bois de Boulogne“
aufgeschlagen. Es sind bei Alexis Gruss fast ausschließlich drei
Generationen der Familie, die in jedem Jahr mit neu gestalteten
Nummern, zum großen Teil gar in wechselnden Disziplinen,
aufwarten. Engagiert sind heuer nur Francesco Fratellini in der
dritten und Anna Micheletyy in der zweiten Saison sowie das
formidable zehnköpfige Orchester unter Sylvain Rolland. Nach
zwei Jahren Pause ist Tochter Maud Florees (geb. Gruss) zum
Unternehmen zurückgekehrt und hat ihren Mann Tony und Schwägerin
Sarah mitgebracht, die beide nun erstmals in dieser Manege
arbeiten. Man muss diesen Circus mit seinen immer neuen
Programmen im Grunde in mehreren Saisons nacheinander sehen, um
die ganze Kreativität und das volle Können zu entdecken, das
sich hier entfaltet.
Stephan
Gruss, Alexis Gruss, Francesco Fratellini
Die erste
Hälfte des Programms ist also den Ursprüngen des Circus
gewidmet, wie auch ein Sprecher aus dem Off erläutert. Die
Zeitreise zurück in die Ära Philip Astleys verkörpert auch der
gewaltige Kronleuchter über der Manegenmitte, der historischen
Vorbildern nachempfunden ist. Wie sich die zirzensischen
Pferdevorführungen aus der Militärreiterei entwickelt haben, so
steht ein kurzes Konzert mit militärischer Marschmusik und
Fahnenschwingern, welches das gesamte Ensemble in der Manege
vereint, am Beginn der Show. Sogleich schließt sich eines der
schönsten Bilder der ersten Hälfte an, das Karussell mit
insgesamt 23 Pferden. In der Manegenmitte thront
Seniorchefin Gipsy Gruss auf dem Rücken eines Pferdes auf einem
Podest; musizierende Ensemblemitglieder und weiße Pferde mit den
Vorderfüßen auf kleinen Podesten formen eine statische mittlere
Bahn des Karussells. Davor und dahinter drehen zahlreiche Pferde
auf zwei gegenläufigen Bahnen ihre Kreise. Gipsy (im Damensitz!)
und Alexis Gruss sowie deren Tochter Maud und Schwiegersohn Tony
reiten anschließend zunächst solistisch oder im Duett, dann auch
zu viert anspruchsvolle Figuren der Hohen Schule. Ein Stoffpferd
mit zwei menschlichen Akteuren als Innenleben sorgt für ein
heiteres Zwischenspiel, ehe es dann wieder mit richtigen
Vierbeinern weitergeht. Charles und Alexandre Gruss, die beiden
ältesten Enkel von Alexis Gruss, präsentieren sich als elegante
Jockeyreiter, gefolgt von ihrem Vater Stephan, der auf einem
galoppierenden Pferd stehend über Hürden springt und dabei samt
Pferd „Seil springt“. Gipsy Gruss präsentiert diese höchst
anspruchsvolle Übung im Damensitz. Eine elegante Ballerina zu
Pferd verkörpert Maud Florees, die hierbei elegant über
Stoffbarrieren springt, unter denen Hengst Lisy hindurchläuft.
Im Tüllröckchen und mit reichlich Haaren auf der Brust
präsentiert sich anschließend eine sehr spezielle „Ballerina zu
Pferd“, gespielt von Francesco Fratellini, die erst mutig
scheint und dann, kurz vor der Stoffbarriere, doch lieber
panisch abspringt und das Weite sucht. Komisch geht es weiter
mit Elefantendame Syndha. Diesmal wird ein Herr – aus dem
Mitarbeiterstab und nicht aus dem Publikum – in gar nicht
zimperlicher Weise von ihr „rasiert“. Nicht zu aufbrausender
Musik, wie es allgemein üblich ist, sondern zu musikalisch ganz
leisen Tönen dirigiert Alexis Gruss verschiedene Steiger. Fünf
schwere Pferde, sie arbeiten neben einigen anderen Tieren
erstmals in der Gruss-Manege, darauf vier Herren und an der
Spitze drei Damen formen eine equestrische Pyramide. Das
Gruss-Ensemble zeigt dabei Figuren ähnlich wie bei einem
Pas-de-deux zu Pferd, selbstverständlich alles unter dem Dirigat
von Alexis Gruss. Mit einer rasanten Jockeyreiterei, ausgeführt
von Firmin, Stephan, Charles und Alexandre Gruss, geht es in die
Pause.
Ensemble, Firmin Grusa, Alexandre Gruss
Mit Marsch
wurde der erste Programmteil eröffnet, ein Rockkonzert eröffnet
den zweiten. Charles Gruss am Schlagzeug, sein Bruder Alexandre
an der E-Gitarre, ihr Vater Stephan am elektronischen Schlagwerk
und ihre Onkel Firmin und Tony an Trompete bzw. Posaune lassen
es richtig krachen – damit ist der Programmabschnitt zum
modernen Circus eröffnet, und Sarah Florres steuert als erste
artistische Darbietung ihre anspruchsvolle Kontorsionskür bei.
Eine große Schau ist die Einleitung der Mastennummer – da werden
Anker mit dem Vorschlaghammer in den Boden getrieben, wird auf
Graffiti-besprühten Tonnen getrommelt, wird geschweißt und rollt
ein Traktor durch die Manege, und all dies verbindet sich mit
dem Spiel des Orchesters zu einer außergewöhnlichen
musikalischen Einlage. Stephan Gruss’ Ehefrau Nathalie und
Francesco Fratellini sind dann die Akteure der Arbeit am
Chinesischen Masten, den Francesco abschließend mit einem Salto
verlässt. Verschiedene Disziplinen der Jonglage – mit bunten
Luftballons, Hula Hoop-Reifen, einem Metall-Quadrat und
Metallwürfeln – bilden dann ein buntes artistisches Tableau mit
mehreren Akteuren. Ein Glanzlicht dieses Programmteils ist
Firmin Gruss’ Arbeit auf der freistehenden Leiter. Nach
Handstand und Jonglage mit fünf Keulen verlässt er das Requisit
abschließend mit einem Rückwärtssalto zur Bodenmatte. Kraftvolle
Übungen in und an einer großen Metallgitterkugel, deren Streben
auch als eine Art Haltestuhl verwendet werden, präsentieren
Nathalie Gruss und Anna Micheletty unter der Circuskuppel. Die
Luftnummer markiert den Beginn einer Reise in den Weltraum, zu
der das Ensemble in Astronautenanzügen aufbricht und mit
Taschenlampen ein geheimnisvolles Lichterspiel zaubert.
Stephan, Charles
und Alexandre Gruss, Tony Florees
Stephan,
Alexandre und Charles Gruss sowie Tony Florees jonglieren auf
einer Art Karussell, einem zweiarmigen und drehbaren Gestell. In
immer neuen Kombinationen lassen die Akteure, in der besuchten
Vorstellung leider mit einigen Patzern, die Keulen fliegen,
während sich die Arme dieses Karussells heben und senken bzw.
sich das gesamte Gerät dabei dreht. Zurück auf die Erde geht es
im Finale, zu dem die Akteure auf Pferden in die Manege reiten.
Auf reines Pferdetheater vor der Pause folgte eine artistische
Reise in moderner Ästhetik im zweiten Teil, das zurückhaltende
Theaterlicht der ersten Hälfte wurde abgelöst durch farbenfrohe
Lichteffekte (mit neuer Technik!), Marschmusik und leisere Tönen
gingen nahtlos über in lauten Rock, alles fantastisch und fein
differenziert gespielt vom großen Orchester. |