Und
was passiert? Einige der Akteure ziehen sich weiße Röcke an, und es wird
Walzer getanzt. Bei dieser eher ruhigen Stimmung bleibt es dann auch
zumindest für den Großteil der folgenden Nummern. Was da diesen Winter
auf dem Kasseler Friedrichsplatz zu sehen ist, ist definitiv der
ruhigste Flic Flac der letzten Jahre. Dabei stammt die Regie von Flic
Flac-Gründer Benno Kastein und der Artistin Ira Rizaeva. Genauer
genommen ist es natürlich nicht Flic Flac, sondern das nunmehr vierte
„Festival der Artisten“. Anders als im ersten Jahr noch, gibt sich Flic
Flac jetzt aber ganz klar als Veranstalter zu erkennen. Doch nicht nur
die Grundstimmung der Show ist anders, auch bei der Auswahl der Nummern
überrascht Flic Flac. Klassiker wie Todesrad oder Motorradkugel fehlen.
Dafür gibt es eben solche Genres wie Sandmalerei, Sanddorn-Balancen
oder Roue Cyr. Dies führt zudem dazu, dass wir viele für Flic Flac neue
Gesichter erleben dürfen. Eine rundum spannende Erfahrung also, das
diesjährige Kasseler Festival.
Roue Cyr, Schleuderbrett, Haus
Weiter
geht es nach dem Opening mit vier jungen adrett, frisierten Herren in
Nadelstreifen und mit roter Krawatte. Die Godfathers zeigen
Handvoltigen und bilden verschiedene mehrstöckige Figuren, in die sie
Handstandakrobatik integrieren. Ihr Trickrepertoire ist dem von Gruppen
wie Seaworld oder Atlantis ähnlich. Im März-Programm 2012 des Circus
Krone war Hugo Noel zu sehen. Wie dort, glänzt der ehemalige
Soleil-Artist auch in Kassel mit seiner wunderbaren Kür am Roue Cyr.
Noel ist zudem Teil einer insgesamt sechsköpfigen Truppe. Vor der Pause
erleben wir sie am Schleuderbrett. Ihr Auftritt ist in eine kleine
Geschichte verpackt. Drei der jungen Artisten, darunter eine Frau,
tragen rote Oberteile, drei weiße. Die beiden so gekennzeichneten Gangs
wollen sich zunächst bekriegen, machen dann aber doch gemeinsame Sache.
Sprich sie katapultieren sich gegenseitig mit einem Schleuderbrett in
die Luft, um dort waghalsige Sprünge auszuführen. Dazu klingt teilweise
sogar „echte“ Schleuderbrett-Begleitmusik. Zu Rock'n'Roll arbeiten sie
schließlich die Schlussnummer der Show. Es geht mit Hilfe von zwei
Trampolinen rasant in die einzelnen Stockwerke eines Hauses aus
Plexiglas. Die flotten Sprünge werden von den jungen kanadischen
Artisten mit großem Einsatz und äußerst sympathisch absolviert.
Pavel Evsukevich, Nikolai Kuntz, Rigolo
Auf
weiße Bälle und Ringe beschränkt sich Pavel Evsukevich. Der junge
russische Jongleur „spart“ aber nur bei den Requisiten. Hinsichtlich
Technik und Verkauf ist er hingegen oben auf. Trotz eher
zurückhaltender Präsentation gewinnt er die Herzen der Kasseler im
Sturm. Höhepunkt ist die Jonglage mit elf Ringen während er einen Ball
mit dem Kopf in Bewegung hält. Einen anderen Youngster zieht es unter
die Kuppel. Nicolai Kuntz ist bei Flic Flac aufgewachsen und war dort
auch im bislang letzten Saisonprogramm zu sehen. Seine riskanten
Sprünge und Abfaller am Trapez sind zum Glück mit einer Longe
gesichert. Das ändert aber nichts an deren hohem Schwierigkeitsgrad.
Die wohl für Flic Flac ungewöhnlichste Nummer ist die von Rigolo direkt
vor der Pause. Statt Rammstein gibt es Violinentöne, am Ende hört man
sogar nur Atemgeräusche. In aller Ruhe und Konzentration stapelt der
Schweizer 13 immer größer werdende Palmäste zu einem äußerst fragilen
Gebilde übereinander. Das Publikum folgt dieser außergewöhnlichen Übung
gebannt, der Applaus entlädt sich - wie von seinen Auftritten gewohnt -
erst zum Schluss.
Flying Heroes, Robert Muraine
Die
Flying Heroes kennen wir, ebenso wie Nikolai Kuntz, aus der Produktion
„ARTgerecht“. Das jugendliche Sextett vom Moskauer Nikulin Circus
ergänzt seine Sprünge am Flugtrapez um Übungen an der Reckstange. Der
Dreifache gelingt an diesem Nachmittag sicher. Ungewöhnlich ist, dass
der inzwischen oft gezeigte „Kopfsprung“ aus der Kuppel von einer Frau
ausgeführt wird. Wie die Heroes arbeitet auch Robert Muraine zu
Diskomusik. Sein Auftritt hingegen ist deutlich schwieriger zu
beschreiben. Zunächst einmal ist der Typ aus L.A. einfach eine coole
Socke. Strickmütze und Jacke legt er gleich ab, um dann in glänzender
Trainingsjacke und Jeans loszulegen. Im Kern tanzt er. Dabei bewegt er
seinen Körper aber auf so ungewöhnliche Weise, dass man ihn fast
als Kontorsionisten bezeichnen könnte. Allein vom Zuschauen schmerzen
die Verrenkungen seiner Arme. Aber eben nur aus der Perspektive des
Betrachters. Muraine selbst bleibt völlig entspannt.
Andrej Jigalov, Phil Os, Duo A & A
Als
ich Andrej Jigalov die ersten Male sah (Knie und Flic Flac) absolvierte
er seine Auftritte zusammen mit Kolomiets. Seitdem wechselten die
Manegenpartner. Aktuell nun hat er wieder einen Gegenspieler, der
genial zu diesem kleinen, hinterlistigen Komiker par excellence passt.
Herrlich, wenn der hochgewachsene Flötist (Name wird leider im
Programmheft nicht genannt) Jigalovs Gesten und sein Grunzen imitiert.
Sie spielen zwei Szenen: zum einen das Flötenkonzert mit Wassereinsatz,
zum anderen die vokale Aufführung von „My way“, bei der ein Hosenträger
eine wichtige Rolle spielt. Den Heimvorteil im Wettstreit um die drei
Hauptpreise dieses Festivals hat Phil Os. Der Diabolo-Jongleur rockt
das Haus und springt schonmal vom Verstärker auf die Bühne. Neben der
Jonglage von drei Diabolos hat Os auch Originaltricks auf Lager.
Besonders originell ist sein Handstand, während er mit dem Mund die
beiden Stäbe hält und auf dem Seil dazwischen zwei Diabolos tanzen. Vom
Stil ihres Auftritts ähnelt das Duo A & A am ehesten den Alexis
Brothers. Doch Brüder sind Adam und Anton nicht. Vielmehr kommen sie
aus unterschiedlichen Teilen der Erde. Der eine ist US-Amerikaner, der
andere Ukrainer. Zusammen zeigen sie eine kraftvolle
Partnerequilibristik der Spitzenklasse, mit der sie unter anderem schon
im Cirque du Soleil Erfolge feierten. Stark ist etwa das Balancieren
des Partners auf den Füßen, während dieser einen Handstand drückt.
Finale
Zum
Finale ist auf der Bühne eine Luftkissenbahn aufgebaut. Je nach
Fertigkeit zeigen die Artisten darauf akrobatische Sprünge oder hüpfen
ganz einfach ausgelassen darüber. Jigalov singt dazu. Ein Flic
Flac-Klassiker ist die Aufstellung aller Mitwirkenden am Rand der
Bühne, während sich diese dreht. In Kassel dürfen wir dieses
eindrucksvolle Bild mal wieder erleben. Die endgültige Verabschiedung
gehört Lili Chistina. Erneut malt sie an ihrem Pult wunderbare Bilder
aus Sand, die auf die große Leinwand über dem Artisteneingang
übertragen werden. Auf dieser Projektionsfläche werden zwischen den
Nummern kleine Einspieler mit den Akteuren der folgenden Darbietung
gezeigt.
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