CHPITEAU.DE

Kasseler Circusfestival 2012
www.flicflac.de ; 80 Showfotos

Kassel, 29. Dezember 2012: Wüsste man nicht, dass das Chapiteau außen gelb-schwarz gestreift ist, dass das Ambiente mit Einzelstühlen auf steil ansteigendem Gradin vertraut und die Beleuchtung „wie immer“ ist, man könnte glatt glauben, in der falschen Veranstaltung zu sein. Zum Beginn der Show nämlich malt eine junge Dame in weißer Bluse und mit schwarzer Fliege aus Sand unter anderem das Kasseler Wahrzeichen, den Herkules. Dazu erklingt klassische Musik. Als dann das eigentliche Opening startet, endlich Entwarnung: Junge Artisten toben zu Rockmusik über die Rundbühne.

Und was passiert? Einige der Akteure ziehen sich weiße Röcke an, und es wird Walzer getanzt. Bei dieser eher ruhigen Stimmung bleibt es dann auch zumindest für den Großteil der folgenden Nummern. Was da diesen Winter auf dem Kasseler Friedrichsplatz zu sehen ist, ist definitiv der ruhigste Flic Flac der letzten Jahre. Dabei stammt die Regie von Flic Flac-Gründer Benno Kastein und der Artistin Ira Rizaeva. Genauer genommen ist es natürlich nicht Flic Flac, sondern das nunmehr vierte „Festival der Artisten“. Anders als im ersten Jahr noch, gibt sich Flic Flac jetzt aber ganz klar als Veranstalter zu erkennen. Doch nicht nur die Grundstimmung der Show ist anders, auch bei der Auswahl der Nummern überrascht Flic Flac. Klassiker wie Todesrad oder Motorradkugel fehlen. Dafür gibt es eben solche Genres wie Sandmalerei, Sanddorn-Balancen oder Roue Cyr. Dies führt zudem dazu, dass wir viele für Flic Flac neue Gesichter erleben dürfen. Eine rundum spannende Erfahrung also, das diesjährige Kasseler Festival.


Roue Cyr, Schleuderbrett, Haus

Weiter geht es nach dem Opening mit vier jungen adrett, frisierten Herren in Nadelstreifen und mit roter Krawatte. Die Godfathers zeigen Handvoltigen und bilden verschiedene mehrstöckige Figuren, in die sie Handstandakrobatik integrieren. Ihr Trickrepertoire ist dem von Gruppen wie Seaworld oder Atlantis ähnlich. Im März-Programm 2012 des Circus Krone war Hugo Noel zu sehen. Wie dort, glänzt der ehemalige Soleil-Artist auch in Kassel mit seiner wunderbaren Kür am Roue Cyr. Noel ist zudem Teil einer insgesamt sechsköpfigen Truppe. Vor der Pause erleben wir sie am Schleuderbrett. Ihr Auftritt ist in eine kleine Geschichte verpackt. Drei der jungen Artisten, darunter eine Frau, tragen rote Oberteile, drei weiße. Die beiden so gekennzeichneten Gangs wollen sich zunächst bekriegen, machen dann aber doch gemeinsame Sache. Sprich sie katapultieren sich gegenseitig mit einem Schleuderbrett in die Luft, um dort waghalsige Sprünge auszuführen. Dazu klingt teilweise sogar „echte“ Schleuderbrett-Begleitmusik. Zu Rock'n'Roll arbeiten sie schließlich die Schlussnummer der Show. Es geht mit Hilfe von zwei Trampolinen rasant in die einzelnen Stockwerke eines Hauses aus Plexiglas. Die flotten Sprünge werden von den jungen kanadischen Artisten mit großem Einsatz und äußerst sympathisch absolviert.


Pavel Evsukevich, Nikolai Kuntz, Rigolo

Auf weiße Bälle und Ringe beschränkt sich Pavel Evsukevich. Der junge russische Jongleur „spart“ aber nur bei den Requisiten. Hinsichtlich Technik und Verkauf ist er hingegen oben auf. Trotz eher zurückhaltender Präsentation gewinnt er die Herzen der Kasseler im Sturm. Höhepunkt ist die Jonglage mit elf Ringen während er einen Ball mit dem Kopf in Bewegung hält. Einen anderen Youngster zieht es unter die Kuppel. Nicolai Kuntz ist bei Flic Flac aufgewachsen und war dort auch im bislang letzten Saisonprogramm zu sehen. Seine riskanten Sprünge und Abfaller am Trapez sind zum Glück mit einer Longe gesichert. Das ändert aber nichts an deren hohem Schwierigkeitsgrad. Die wohl für Flic Flac ungewöhnlichste Nummer ist die von Rigolo direkt vor der Pause. Statt Rammstein gibt es Violinentöne, am Ende hört man sogar nur Atemgeräusche. In aller Ruhe und Konzentration stapelt der Schweizer 13 immer größer werdende Palmäste zu einem äußerst fragilen Gebilde übereinander. Das Publikum folgt dieser außergewöhnlichen Übung gebannt, der Applaus entlädt sich - wie von seinen Auftritten gewohnt - erst zum Schluss.


Flying Heroes, Robert Muraine

Die Flying Heroes kennen wir, ebenso wie Nikolai Kuntz, aus der Produktion „ARTgerecht“. Das jugendliche Sextett vom Moskauer Nikulin Circus ergänzt seine Sprünge am Flugtrapez um Übungen an der Reckstange. Der Dreifache gelingt an diesem Nachmittag sicher. Ungewöhnlich ist, dass der inzwischen oft gezeigte „Kopfsprung“ aus der Kuppel von einer Frau ausgeführt wird. Wie die Heroes arbeitet auch Robert Muraine zu Diskomusik. Sein Auftritt hingegen ist deutlich schwieriger zu beschreiben. Zunächst einmal ist der Typ aus L.A. einfach eine coole Socke. Strickmütze und Jacke legt er gleich ab, um dann in glänzender Trainingsjacke und Jeans loszulegen. Im Kern tanzt er. Dabei bewegt er seinen Körper aber auf so ungewöhnliche Weise, dass man ihn fast als Kontorsionisten bezeichnen könnte. Allein vom Zuschauen schmerzen die Verrenkungen seiner Arme. Aber eben nur aus der Perspektive des Betrachters. Muraine selbst bleibt völlig entspannt.


Andrej Jigalov, Phil Os, Duo A & A

Als ich Andrej Jigalov die ersten Male sah (Knie und Flic Flac) absolvierte er seine Auftritte zusammen mit Kolomiets. Seitdem wechselten die Manegenpartner. Aktuell nun hat er wieder einen Gegenspieler, der genial zu diesem kleinen, hinterlistigen Komiker par excellence passt. Herrlich, wenn der hochgewachsene Flötist (Name wird leider im Programmheft nicht genannt) Jigalovs Gesten und sein Grunzen imitiert. Sie spielen zwei Szenen: zum einen das Flötenkonzert mit Wassereinsatz, zum anderen die vokale Aufführung von „My way“, bei der ein Hosenträger eine wichtige Rolle spielt. Den Heimvorteil im Wettstreit um die drei Hauptpreise dieses Festivals hat Phil Os. Der Diabolo-Jongleur rockt das Haus und springt schonmal vom Verstärker auf die Bühne. Neben der Jonglage von drei Diabolos hat Os auch Originaltricks auf Lager. Besonders originell ist sein Handstand, während er mit dem Mund die beiden Stäbe hält und auf dem Seil dazwischen zwei Diabolos tanzen. Vom Stil ihres Auftritts ähnelt das Duo A & A am ehesten den Alexis Brothers. Doch Brüder sind Adam und Anton nicht. Vielmehr kommen sie aus unterschiedlichen Teilen der Erde. Der eine ist US-Amerikaner, der andere Ukrainer. Zusammen zeigen sie eine kraftvolle Partnerequilibristik der Spitzenklasse, mit der sie unter anderem schon im Cirque du Soleil Erfolge feierten. Stark ist etwa das Balancieren des Partners auf den Füßen, während dieser einen Handstand drückt.


Finale

Zum Finale ist auf der Bühne eine Luftkissenbahn aufgebaut. Je nach Fertigkeit zeigen die Artisten darauf akrobatische Sprünge oder hüpfen ganz einfach ausgelassen darüber. Jigalov singt dazu. Ein Flic Flac-Klassiker ist die Aufstellung aller Mitwirkenden am Rand der Bühne, während sich diese dreht. In Kassel dürfen wir dieses eindrucksvolle Bild mal wieder erleben. Die endgültige Verabschiedung gehört Lili Chistina. Erneut malt sie an ihrem Pult wunderbare Bilder aus Sand, die auf die große Leinwand über dem Artisteneingang übertragen werden. Auf dieser Projektionsfläche werden zwischen den Nummern kleine Einspieler mit den Akteuren der folgenden Darbietung gezeigt.

Die Sandmalerin ist eine jener Nummern, die diese Show so interessant macht. Auch regelmäßige Circusgänger können bei diesem 4. Kasseler Festival noch viel Neues entdecken. Wer letztendlich einen der Preise gewinnt, bestimmt das Publikum. Interessant ist – wie bereits erwähnt – auch diese für Flic Flac ruhige, ja fast schon heitere Grundstimmung der Show. Seien wir also gespannt auf den Start der Tournee im Februar. Wenn es nach mir geht, darf es dort gerne etwas härter und lauter als in diesem Jahr in Kassel werden.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch