Man geht, wie es Charlotte Alexis in ihrer Conférence erläutert,
zurück an den Beginn des Circus der Neuzeit.
Le cirque commence à cheval – der Circus beginnt mit dem Pferd.
Los geht’s mit einem Viererzug schwarzglänzender Friesen aus dem
Marstall der Familie Spindler. Ann-Katrin Bossert führt die
kleine Gruppe souverän vor. Sie ist sichtlich gereift und
strahlt dieses Jahr mehr Ruhe bei der Arbeit und
jugendlich-weiblichen Charme aus. Das gilt auch für die von ihr
präsentierte hauseigene Ponygruppe. Aus der „Pony-Rasselbande“
sind die „Landauer Weihnachts-Ponys“ geworden. Ann-Katrin hat
die Engelsflügel am Kostüm abgelegt und kommt auch hier als
junge, ernstzunehmende Dresseuse daher, die ihre Ponygruppe
sicher und ohne Patzer mit abwechslungsreichen Laufformationen
vorführt. Die auf die Nummer angepasst arrangierte Musik von
Rosenstolz „Das bin ich“ unterstreicht dieses neue
Selbstbewusstsein. Wir sehen Ann-Katrin noch ein drittes Mal –
und auch das zeigt ihre Ambitionen –, wenn sie zusammen mit
Ramona Spindler ein paar Runden die „Doppelte Hohe Schule“ auf
dem Friesenhengst „Marcho“ reitet, wobei Ramona das Duo auf dem
Andalusier „Armarando“ anführt.
Franz Spindler,
Ann-Katrin Bossert, Ramona Spindler
Danach ist Ramona Spindler solo auf Armarando zu erleben. Pferd
und Reiterin sind hier eins, die Musik passt, Ramona begeistert
mit abwechslungsreichen Figuren und lässt einen die Schönheit
und Eleganz einer Darbietung der „Hohen Schule“ erleben. Nach
kurzer Wechselpause brilliert sie dann auf Marcho. Das ist nicht
mehr Reiten, das ist Tanz von Reiterin und Pferd in der Manege,
so leichtfüßig folgt der Hengst Ramona Spindler bei Piaffe und
Passage. Zum Abschluss eine Runde um die Manege im spanischen
Schritt und Beendigung mit der Pesade, bei der Marcho sich einem
Steiger ähnlich auf seine Hinterbeine erhebt. Dressurübungen der
höchsten Klasse perfekt dargeboten, was beim Namen der Reiterin
nicht verwundert.
Vervollständigt wird das „Pferdeprogramm“ mit Franz Spindler und
einem Sechserzug Araber als Finalnummer. Das ist noch einmal
Stimmung pur, wenn Franz Spindler seine ganze Klasse aufblitzen
lässt, mit Pferden und Publikum spielt und am Ende eine
temperamentvolle und variantenreiche Freiheitsdressur abliefert.
Gegenlaufen, Walzen, Flechten – es werden alle Register gezogen,
immer wieder angereichert durch diverses Steigen, wobei Franz Spindler zum Abschluss alle Pferde als Steiger in einer Linie
durch die ganze Manege zum Ausgang führt. Franz Spindler ist
noch mit seiner Herde Trampeltiere zu sehen. Sechs prächtige
zweihöckrige Kamele, top gepflegt und eine Augenweide für jeden
Betrachter. Langsames und flottes Tempo wechseln, die
Lauffiguren variieren und zum Abschluss springt ein Araber über
zwei abliegende Kamele.
Charlotte und
Totti Alexis, Truppe Hajji
Henry Fröchte hat seine bekannte Tellerjonglage umgebaut und
präsentiert sie zusammen mit „Hausmeister Ali“, dem Liliputaner
Ali Bayar, mit viel Slapstick und zu Bruch gehendem Porzellan,
ehe am Ende dann doch alle zehn Teller auf ihren Stäben
rotieren. Die marokkanische „Troupe Hajji“ wurde kurzfristig für
die krankheitsbedingt ausgefallene Schleuderbrett-Nummer der
rumänischen „Trupa Andrei“ verpflichtet. Die fünf
sprunggewaltigen sympathischen Jungs liefern eine solide Arbeit
mit diversen Salto- und Sprungvarianten quer durch die Manege
sowie mehreren Varianten von Menschenpyramiden ab. Ramona
Spindler besetzt den „Luftpart“ des diesjährigen Programms mit
einer flotten und effektvollen Darbietung am Vertikalseil.
Der Bereich „Humor und Entertainment“ ist bei Totti Alexis in
besten Händen. Ein Vollprofi, der es versteht, alle Register zu
ziehen. Musikalisches Entertainment, bei dem das ganze Zelt
gerockt wird und das Publikum tobt wie bei einem Konzert von
Weltstars, Solo-Clownerie vom Feinsten wie sein Mikrofon-Entrée
oder die auf verbaler sowie situationsbedingter Komik beruhenden
Duette mit seiner Frau Charlotte – bei Totti Alexis sitzt jeder
Gag und es gibt keine peinlichen Lacher. Da ist Stimmung im Zelt
und lautes Lachen kommt aus voller Seele. Einer der Besten
seiner Zunft.
Andrzej & Tomek
Den artistischen Höhepunkt setzen Andrzej Piechota und Tomasz
Wlezien alias „Andrzej & Tomek“. Das sind knapp acht Minuten
ungläubiges Staunen, feuchte Hände, im Prinzip Dauerklatschen
und am Ende explosive Entladung der Anspannung in frenetischem
Applaus und Jubel. Und aus der Manege winken zwei
freundlich-bescheidene Polen zurück und bedanken sich mit
angedeutetem Applaus Richtung Publikum, als wüssten sie nicht,
was sie eben geleistet haben. Es war eine der besten, nein – die
beste Kraftakrobatik-Darbietung eines Duos, die ich bislang –
zumindest so meine Erinnerung mitspielt – in einem klassischen
Circus gesehen habe. Wie fließend wirkende Übungen am Limit
menschlicher Kraft, keine wirklich wahrnehmbaren Absetzpausen,
Sequenzen, wo man sich fragt, wo eigentlich die Schwerkraft
geblieben ist – kurz und gut eine schwer zu beschreibende
Nummer. Die muss man gesehen haben. Hier hat Jakel Bossert mal
wieder das Händchen für eine Sensation gehabt, die ihres
gleichen sucht. |