Diese
Mischung ist dabei so grandios gelungen, dass man als Zuschauer nach
dem Finale die Zeltanlagen auf dem Cannstatter Wasen nur schweren Herzens verlässt.
Zu überwältigend waren einfach die über drei Stunden Circusprogramm
zuvor.
Truppe Sokolov, Globe of Death, Reifenspringer aus China
Was
bei anderen verdiente Schlussnummer wäre, ist in Stuttgart gleich an
den Beginn gesetzt: die Schleuderbrett-Gruppe Sokolov vom russischen
Staatscircus Nikulin wirbelt sich mit Salti durch die Manege und baut
meterhohe Menschentürme. Alle Tricks werden dabei komplett sicher
präsentiert. Gleich mehrere Varianten zum Drei-Personen-Hoch werden
gesprungen, gefolgt von Türmen mit vier und fünf Personen. Der
dreifache Salto in den Sessel ist ebenso zu sehen wie diverse
Stelzensprünge. Den sensationellen Schlusstrick gibt es so auch bei der
Truppe Kovgar – der Sprung führt an die Spitze einer Art Pyramide,
bestehend aus einem Sessel, der von einem Akteur getragen wird, der
selbst auf Stelzen auf einem russischen Barren steht, der wiederum von
zwei Gruppenmitgliedern getragen wird. Sensationell, auch wenn
Kostümierung und Musikauswahl im Stile Mozarts sicherlich
Geschmackssache ist. Nicht minder spektakulär sind die zehn Hasardeure
um José Antonio Pinillo Ramos, die nach der Pause zusammen durch den
„Globe of Death“ donnern und sich dabei sogar kreuzen. Zum Schluss
sorgt dann zusätzlich eine Illuminierung der Motorräder für weiteres
Staunen bei der immer wieder sehr publikumswirksamen Nummer. Auch die
aktuellen Gewinner eines „Goldenen Clowns“ beim Festival in Monte
Carlo sind in Stuttgart vertreten. 20 junge Chinesen beweisen
sich als Reifenspringer. Als besonderer Clou verändern die Reifen
elektronisch ihre Position, so dass die Akrobaten vor immer neuen
Sprungvariationen stehen, teilweise über- und untereinander her springen
müssen. Traditioneller Abschluss sind Sprünge durch immer höher werdende
Reifentürme. Als Höhepunkt wird gar ein Reifenturm von 3,10
Metern, und damit rund 60 Zentimeter über den Höchstwerten im
Leistungssport, überwunden.
Luftnummer des Nationalcircus von Pyongyang
Die
Krönung des Programms aber ist die wieder einmal neue Flugshow des
Nationalcircus von Pyongyang (Nordkorea). Fünf männliche und zwei
weibliche Truppenmitglieder zeigen bisher noch nicht bekannte Sprünge.
Dafür gibt es gar eine spezielle Trapez-Konstruktion: oberhalb des
traditionellen Fängers befindet sich ein Haltestuhl, an dem ein zweiten
Fänger arbeitet. Auch oberhalb des schwingenden Trapezes ist ein
weiterer Haltestuhl mit Fänger installiert. So sind immer neue
Flugbahnen zwischen dem Trapez und den einzelnen Fängern möglich.
Gesprungen werden aber auch Klassiker wie die Passage, der dreifache
Salto (von der Fliegerin Kim Un Ha), eine dreifache Schraube und der
vierfache Salto (von Flieger Ryu Kum Song). Absoluter Höhepunkt ist
aber natürlich der fünffache Salto, der in der besuchten Vorstellung
gleich im ersten Anlauf perfekt gelingt. Um mehr Schwung zu
bekommen, startet der Flieger Han Ho Song dabei nicht von der
Plattform, sondern von einer Art Schaukel, die das Trapez ersetzt. Nur
so erreicht er die Höhe, um dann nach fünf Umdrehungen sicher in den
Händen des Fängers zu landen. Selbst bei jemandem, der beim dreifachen
Salto im Grunde keine Regung mehr zeigt, erzeugt dieser Trick wieder
Kribbeln ob des Gelingens oder Scheiterns. Eine unglaubliche und
sensationelle Leistung, die völlig zu Recht mit Standing Ovations
bedacht wird.
Mou Quiang und Yang Gang, Fratelli Errani, Mario Berousek
Herausragende
akrobatische Leistungen bieten in diesem Programm aber nicht nur die
großen Truppen, so manche Manegen-Persönlichkeit steht da kaum nach. Da
sind zum Beispiel die beiden Chinesen Mou Quiang und Yang Gang, die
ihrer Beschreibung als „lebende Weltwunder“ in der Tat sehr nah kommen.
Ihre Handstandakrobatik ist schlicht nicht zu übertreffen. Beide
arbeiten auf einem hohen Piedestal, an dem an beiden Seiten Treppen
hinführen. Eine dieser Treppen wird gar im Einarmer ab- und wieder
aufwärts bezwungen, nachdem der Akteur zuvor den Klötzchenabfaller
gezeigt hat – natürlich auch auf einer Hand und ohne zwischendurch
abzusetzen. Die andere Treppe geht es ebenfalls hinab, nun im Handstand
und mit dem Partner sprichwörtlich im Nacken. Dort drückt er seinen
einarmigen Handstand. Wahnsinn. Noch immer mitreißend sind die Fratelli
Errani, die für Stuttgart ihre Ikarier-Künste wieder ausgepackt haben.
Zu treibender Musik werden Salti und Kaskaden immer noch am laufenden
Band und im hohen Tempo produziert. Tempo ist auch das Stichwort für
Mario Berousek, immer noch schnellster Jongleur der Welt. Ganz gleich,
mit wie vielen Keulen er jongliert, sein Auftritt ist pure Rasanz.
Barto, Kris Kremo, David Larible
Ruhiger
geht es da beim Duo „Desire of Flight“ zu. Malvina Abakarow und Valeriy
Sychev zeigen ein gleichermaßen sinnliches wie gefährliches Pas de Deux
an Strapaten. Immer wieder fängt Sychev die brisanten Abfaller seiner
Frau auf. Bilder in Gold erzeugt das Adagio-Duo „Golden Power“ mit
seinen kräftezehrenden Posen, wie der Waage oder dem einarmigen
Handstand auf dem Kopf des Partners. Yelena Larkinas Hula
Hoop-Performance in Weiß ist genauso wunderbar anzusehen wie Shirley
Larible an den Strapaten. Sie eröffnet nun gleich mit dem Spagat und
endet mit Umschwüngen des ganzen Körpers. Den Schalk im Nacken hat
nicht nur der komische Akrobat Barto, der mit seinen Verrenkungen durch
einen Kleiderbügel leider nur den Trapez-Aufbau überbrücken darf,
sondern auch Kris Kremo. Die Manegen-Legende baut immer wieder kleine
Späße in seine klassische Gentlemen-Jonglage mit Zigarre, Hüten und
Zigarrenboxen ein. Und noch einer macht so richtig Spaß: David Larible
ist zurück in Stuttgart und hat offensichtlich viel Spiellaune
mitgebracht. Die verbreitet sich natürlich auch aufs Publikum. Nachdem
er in einem kleinen Opening zum Clown wird, anschließend ein Orchester
dirigiert und dann auch noch seine unnachahmliche Teller-Nummer
zelebriert, hat er mit seinem genialen Gespür für Mitwirkende wie
Publikum wieder alle Lacher und Sympathien bei sich. Großartig.
Géraldine Katharina Knie
Erlesen
sind auch die beiden Tiernummern im Programm. Géraldine Katharina
Knie und ihr Mann Maycol Errani bringen die Tiere des Schweizer
Nationalcircus in die Manege, zunächst neun Schimmel mit allen Figuren
einer Freiheit, anschließend Kamele und Lamas. Steiger beenden den
stets flüssig laufenden, mit Nonchalance präsentierten Block. Elisa und
Alessio Fochesato haben zwar die Anzahl ihrer Papageien und
Sonnensittiche deutlich erhöht, das Trickrepertoire ist aber geblieben.
So stehen weiterhin viele natürliche Abläufe im Vordergrund, allen
voran natürlich das Fliegen durchs Zelt, das auch hier den Auftritt
abrundet.
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