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Alexis Gruss 2015 - "Pégase et Icare"
www.alexis-gruss.com

Paris, 5. Dezember 2015: Es sollte ursprünglich ein Rendezvous für zwei Abende werden. Im Mai 2014 zeigten die Ensembles des Cirque Alexis Gruss und der Akrobatengruppe „Farfadais“ ihr Können in einer gemeinsamen Aufführung. Unter freiem Himmel im Römertheater von Orange (Südfrankreich) war dies wohl ein reizvolles Joint Venture. Beflügelt vom Erfolg der Veranstaltung wurde die Zusammenarbeit fortgesetzt. Will heißen: Im Winter 2014/15 verzichtete Alexis Gruss für sein Paris-Gastspiel auf eine neue Produktion in bekannter Machart. Stattdessen wurde die gemeinsame Aufführung mit den Farfadais gezeigt.

Und das offenbar mit so positiver Resonanz, dass man heuer, beim aktuellen Wintergastspiel bis 3. März 2016, einfach die gleiche Produktion wieder aufgenommen hat. „Pégase et Icare“ lautet das Motto mit Bezug auf zwei Fabelwesen der griechischen Mythologie. Pegasus ist halb Mensch, halb Pferd. Folglich werden Pferdedressuren, Reiterei und Akrobatik zu Pferd aus dem Hause Gruss diesem Wesen zugeordnet. Das ist schon ulkig, denn die Familie Alexis Gruss hatte mit ihren Pferdenummern im Programm 2013/14 die Geschichte des eigenen Unternehmens erzählt. Nun sollen die unveränderten Darbietungen die griechische Mythologie versinnbildlichen. So flexibel kann künstlerische Interpretation sein. Der tollkühne Ikarus, der mit seinen Flügeln der Sonne zu nahe kam, wird durch die  vornehmlich in der Luft dargebotene Akrobatik der Truppe Farfadais dargestellt. Sie ist mit vier Damen und vier Herren unter der Leitung von Stéphane Haffner in der Show vertreten.


Opening, Jockeyreitererei

Im Eröffnungsbild sind die Farfadais und die Familie Gruss gemeinsam zu sehen. Drei Duos jeweils aus Mann und Frau zeigen Luftakrobatik an Tüchern. Diese hängen an einem Metallring. Mit Pferdekraft der Gruss-Reiter wird der Ring wie ein Karussell bewegt. Das ist ein schönes Bild und einer der Momente, in denen beide Ensembles wirklich zusammenarbeiten. Ansonsten bleibt häufiger der Eindruck, dass zwei verschiedene Produktionen im Wechsel gezeigt werden. Besonders deutlich wird dies auch in der musikalischen Begleitung: Familie Gruss arbeitet zu den anspruchsvollen Originalkompositionen aus der 2013er Produktion „Silvia“, die Farfadais zu populären Popsongs aus den Charts, begleitet von einer Sängerin. Dazu spielt in jedem Fall das formidable, zehnköpfige Orchester des Cirque National Alexis Gruss. Bei der anschließenden Jockeyreiterei wird das große Potenzial deutlich, das der Familie Gruss aktuell zur Verfügung steht. Die Geschwister Stephan, Firmin und Maud sind jung genug, Stephans Söhne Charles, Alexandre und Louis alt genug, um gemeinsam ein wunderbares Artistenensemble zu bilden. In mannigfaltigen Varianten zeigen sie ihre Sprünge auf die galoppierenden Pferde. Ein Salto zu Pferd und andere Höchstschwierigkeiten werden jedoch nicht gezeigt.


Schaubild mit Hoher Schule, Handstand- und Luftakrobatik, Musik und Gesang

Es folgen die Farfadais mit einer siebenfachen Poledance-Nummer: Vier Herren räkeln sich direkt an der Piste an den Stangen, drei Damen auf einem fahrbaren Bühnenwagen in der Mitte der Manege. Wiederum aus dem Hause Gruss kommt die fantastische Jonglage auf galoppierenden Pferden, die von den Junioren Charles und Alexandre präsentiert wird. Das folgende Schaubild vereint wieder Gruss und Farfadais: Ein männlich-weibliches Duo zeigt Hebeakrobatik auf einem kreisenden Podium in der Manegenmitte, um sie herum reiten Prinzipal Alexis Gruss und seine Frau Gypsi eine doppelte Hohe Schule. Sohn Stephan spielt dazu Trompete – und unter der Kuppel turnen zwei Herren und eine Dame an drei großen Spiralen. Auch eine gemeinsame Akrobatik der vier Farfadai-Damen in einem großen Ring gehört zu diesem Bild, das ähnliche Nachteile hat wie ein Drei-Manegen-Circus. Sprich: Weil mehrere Darbietungen gleichzeitig gezeigt werden, kann man keiner mit voller Aufmerksamkeit folgen. Die volle Aufmerksamkeit gebührt jedoch im Anschluss auf jeden Fall der bildhübschen Maud Florees (geb. Gruss), wenn sie einen schwarz-braunen Achterzug Freiheitspferde vorstellt. Der Aufbau des Gegenlaufs oder die verschiedenen Farbwechsel beinhalten Höchstschwierigkeiten, die heute absolute Raritäten in der Manege sind! Bravo. Für die Pausennummer sorgen dagegen wiederum die Farfadais: Die Sängerin wird in einer Art Riesenkleid unter die Kuppel gezogen, darunter drehen sich vier Artisten an einem Strapaten-Karussell und zeigen zwei Herren einen Duo-Luftring.


Steiger-Potpourri, Pyramide zu Pferde, Batoudespringen

Wiederum mit großem Requisiten-Brimborium wird der zwei Programmteil eröffnet. Diesmal zeigen zwei Herren und zwei Damen der Farfadais Kraft und Beweglichkeit bei ihrer Artistik an und in einer wassergefüllten Plexiglas-Kugel. Dazu regnet es aus der Zeltkuppel – und man fragt sich, ob manchmal nicht weniger mehr wäre. So wie beim anschließenden, schlichten Solo-Handstand eines Farfadai-Artisten. Wiederum aus „Silvia“ bekannt, einschließlich der edlen Kostüme im Metallic-Look, sind die anschließenden Pferdenummern der Familie Gruss. Dazu gehören das Batoudespringen über bis zu fünf Pferde, die große (und longengesicherte) Pyramide zu Pferd sowie ein Potpourri feuriger Steiger, die Alexis Gruss persönlich in die Manege bringt. Ein Jammer ist freilich, dass zwar ausschließlich bekannte Nummern aus „Silvia“ gezeigt werden, auf die sensationelle Ungarische Post mit 14 Vorauspferden jedoch verzichtet wird. Ohnehin räumt diese Produktion den Farfadais breiten Raum ein. Die Familie Gruss zeigt dagegen nur ihre Pferdenummern, setzt aber ihr hochstehendes clowneskes, musikalisches und artistisches Können (abgesehen von Artistik auf Pferden) nicht ein. Auch Elefantendame Syndha pausiert, auf Komik wird in „Pégase et Icare“ leider völlig verzichtet.


Pferdefreiheit und Luftakrobatik

Wenn Alexis Gruss sechs Pferde in zwei Dreiergruppen gleichzeitig flechten lässt, ist das ein zirzensischer Hochgenuss. Da wäre es gar nicht notwendig, dass obendrüber noch ein achtfaches Luftballett an Tüchern aufgeführt wird – es lenkt nur ab, Zuschauer und Pferde. Auf einen Tanz weißer Fabelwesen folgt schließlich nochmal Maud Florees im wundervollen blauen Kleid und mit fünf herrlichen Friesen in Freiheitsdressur. Mit einer Materialschlacht bringen die Farfadais das Programm zum Ende. Nun wird in der Manege eine Art Pool mit Springbrunnen errichtet. Unter der Kuppel wird noch einmal Luftakrobatik gezeigt – in Gitterkugeln und in einem dreifachen Luftring, jeweils im Regen des Springbrunnens. Mit den knappen Kostümen, in denen die Farfadais arbeiten, wird in der gesamten Vorstellung ganz offen auf eine stark homoerotisch geprägte Ästhetik gesetzt. Auch das findet nun mit Herren im Wassernixen-Outfit seinen Höhepunkt.

Tatsächlich hat diese Produktion nicht viel gemein mit den Programmen, die wir in den vergangenen Jahren im großen Chapiteau des Cirque National Alexis Gruss sahen. Wir würden uns wünschen, dass die Familie Gruss im kommenden Winter wieder zu ihrem bisherigen Konzept zurückkehrt. Damit hatte sie ihr ganzes Können in Dressur, Reiterei, Artistik, Musik und Clownerie, ihren guten Geschmack und ihre überschäumende Kreativität stets auf so vortreffliche Weise bewiesen. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass auch diese Produktion in der besuchten Vorstellung vom Publikum mit Standing Ovations bedacht wurde.

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Text: Benedikt Ricken; Fotos: Cirque Alexis Gruss / Jacques Gavard