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Weltweihnachtscircus Stuttgart 16/17
www.weltweihnachtscircus.de ; 200 Showfotos

Stuttgart, 22. Dezember 2016: Es gab Zeiten, da galt der Weltweihnachtscircus als seelenlose Show, in der nur das „höher, schneller, weiter“ zählt. In der Zwischenzeit haben die Produzenten reagiert. Zu den häufig aus Fernost stammenden Sensationsnummern kamen kleinere, charmante Darbietungen. Artistenpersönlichkeiten waren plötzlich stärker gefragt. In der aktuellen Ausgabe scheint sich das Verhältnis gegenüber früher umgekehrt zu haben. Jetzt liegt der Schwerpunkt auf für Stuttgarter Verhältnisse eher kleinen Nummern. Insbesondere im zweiten Programmteil wird dies deutlich.

Die große Luftnummer mit komplizierten Aufbauten fehlt in diesem Winter ganz. Was aber nicht heißt, dass dieser hochkarätigste aller Weihnachtscircusse sein Niveau gesenkt hat. Der Fokus wurde eben verschoben. Hinzu kommt, dass die große Truppe aus China mit faszinierenden Choreographien aufwartet. Nur die Nordkoreaner setzten weiterhin ganz auf Leistung.


Vasily Timchenko, Menno & Emily van Dyke, Grosser Chinesischer Staatscircus Xinjiang

So verwundert es nicht, dass meine drei persönlichen Favoriten bei diesem Weltweihnachtscircus von ganz unterschiedlicher Natur sind. Zunächst ist da Vasily Timchenko, der an diesem Abend drei Seelöwen in die Manege bringt. Darunter ist ein Bulle von eindrucksvoller Größe. Sein Spiel mit den Meeressäugern ist faszinierend. Der junge Russe und seine Schützlinge sind ein eingespieltes Team. Neben bekannten Tricks sehen wir außergewöhnliche wie das gleichzeitige Drehen von Reifen mit Schnauze und einer Flosse. Hinreißend ist die Sequenz, in der Timchenko seinen Tieren Fisch anbietet und sie mit großen schauspielerischen Fähigkeiten reagieren. Das Finale gehört dem Bullen im Solo. Für seinen Einsatz wird er mit einem seiner Größe angemessenen Fisch belohnt. Emotionen pur beim Juggling Tango von Menno und Emily van Dyke. Er ist Jongleur, sie Tänzerin. Gemeinsam zelebrieren sie einen Tango, der auf geniale Weise Artistik, Tanz und enorme Ausdruckskraft vereint. Das Spiel mit Bällen und Keulen wird hier als ungeheuer intensiver Paartanz inszeniert. Es ist eine jener Nummern, die im intimen Rahmen des Tigerpalasts genauso funktionieren wie unter dem großen Chapiteau des Weltweihnachtscircus. Genial unterstützt wird dieser Auftritt durch das famose Orchester von Markus Jaichner, welches zumindest einen Teil der Begleitung übernimmt. Die Musik spielt auch bei der Truppe vom Großen Chinesischen Staatscircus Xinjiang eine übergeordnete Rolle. Peter Tschaikowski ist der Komponist. Sein Schwanensee stand Pate für die ungeheuer eindrucksvolle Handstandakrobatik von nicht weniger als 20 männlichen Artisten. Immer wieder lassen die Männer in den weißen, mit Fransen besetzten Hosen neue, riesige Bilder entstehen. Es ist ein durchgehendes Schauspiel, welches anspruchsvollste Akrobatik und Tanz auf geniale Weise miteinander verschmelzen lässt. Ein einziger Rausch, dem man sich endlos hingeben möchte.


Großer Chinesischer Staatscircus Xinjiang, Nationalzirkus von Pjönjang, Amazonen um Valentina Kulkova

Die Truppe aus Xinjiang eröffnet mit ihren Lassospielen zudem das Programm. Auch hier gibt es eine durchgehende Choreographie. Die rotierenden Seile werden dazu genutzt, große Schaubilder zu kreieren. Schaubilder, die dank artistischer Höchstleistungen im Circus ihren berechtigten Platz haben. Im Januar 2017 geht es für diese Truppe zum Internationalen Circusfestival von Monte Carlo. Während der kommenden Sommersaison ist sie beim Schweizer National-Circus Knie zu erleben. Der Nationalzirkus von Pjöngjang schickt in diesem Winter eine Kombination aus Russischer Schaukel und Reck an den Neckar. Eine Dame und sechs Herren springen von der Schaukel zur Reckstange und zeigen an beiden Geräten hochstehende akrobatische Leistungen. Schlusspunkt ist der präzise Sprung durch einen hoch aufgehängten Reifen. Gehört den Nordkoreanern die Nummer vor dem Finale, müssen sich die Amazonen um Valentina Kulkova mit dem undankbaren Platz direkt nach der Pause begnügen. Während sie auftreten, ist ein guter Teil des Publikums noch dabei, auf seine Plätze zurückzukehren. Schade, denn dieses rassigen Reiterspektakel hat zweifelsfrei die ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Die fünf mutigen Artistinnen beweisen, dass auch Frauen „wie der Teufel“ reiten können. In fantastischen Kostümen jagen sie immer schneller auf ihren Pferden durch die Manege. Sie zeigen mit unbändigem Temperament etliche Tricks der Dshigitenreiterei, die von wilden Schreien begleitet werden. Dabei ist höchstes Tempo angesagt. Nur Valentina Kulkova steht vergleichsweise ruhig in der Mitte und dirigiert den Galopp der Pferde.


Fratelli Errani und Chanel Marie Knie, Maycol Errani, Wolfgang Lauenburger

Wenn wir vom Weltweihnachtscircus und von Pferden sprechen, sprechen wir natürlich auch von der Familie Knie. Es ist inzwischen zur Tradition geworden, dass die Pferdedressuren aus dem Saisonprogramm des Schweizer National-Circus im folgenden Winter in Stuttgart zu sehen sind. In der laufenden Spielzeit ist ein wenig Improvisation angesagt. Denn für einige Zeit zeigt Freddy Knie junior beim Wereldkerstcircus in Amsterdam parallel das große Karussell, für das die meisten Pferde benötigt werden. So präsentiert sein Schwiegersohn Maycol Errani statt der Friesenfreiheit einen Sechserzug Falben. Eingeleitet wird diese mit einer schönen Szene, in der Errani auf einer drehenden Glitzerplattform auf einem Friesen sitzt. Es folgt die von seiner Gattin Geraldine Katharina Knie präsentierte Freiheit mit Kamelen, Zebras und Lamas. Da Capi runden dieses Tableau ab. Imposanter Start der Jockeyreiterei der Fratelli Errani ist die Pyramide zu Pferd auf drei Etagen, an deren Spitze mutig die kleine Chanel Knie steht. Nach Sprüngen auf dem Pferd sowie von Pferd zu Pferd, gibt es auch hier eine Umstellung zum Saisonprogramm. Die Zwillinge Charles und Alexandre Gruss sind zum Unternehmen der Familie nach Paris zurückgekehrt. Kein Problem für die Erranis, sie übernehmen die Jonglagen zu Pferd einfach selbst. Immer eine sichere Bank sind Wolfgang Lauenburger und seine quirlige Rasselbande. Die quicklebendigen Hunde brennen nur darauf, die erlernten Kunststücke zeigen zu dürfen. Offensichtlich sind sie mit größter Freude bei der Sache. Eine Freude, die sich auf das Publikum überträgt.


Alex Michael, Trio Bellissimo, Jonathan Morin & Marie-Eve Bisson

Sechs weitere Nummern komplettieren den artistischen Part. Eine extra-große Portion Nervenstärke benötigt Alex Michael. Ohne jegliche Sicherung zeigt er den Deckenlauf und springt von einem schwingenden Trapez zu einem ruhig hängenden. Beim zweiten Satz fängt er sich sogar nur mit den Füßen. Entspannung setzt erst ein, wenn er sicher auf den Boden zurückgekehrt ist. Immer wieder traumhaft schön ist die Partnerakrobatik des Trio Bellissimo zur spanischen Version des Songs „All by myself“. Ihre sinnliche Kür erfordert viel Kraft und ein enormes Gleichgewichtsgefühl. Daran mag man beim Zuschauen gar nicht denken. Man möchte einfach nur diese fantastische Choreographie voller akrobatischer Hochleistungen genießen. Auch Jonathan Morin und Marie-Eve Bisson bedienen sich für ihren Auftritt eines bekannten Songs. „I don't want to miss a thing“ bildet die Untermalung für ihre Luftnummer am Aerial Crossed Wheel. Das sind zwei Reifen, die so ineinander gelegt sind, dass eine stilisierte Kugel entsteht. Daran erzählt das sympathische Paar aus Kanada eine ungemein sinnliche Liebesgeschichte, die doch so gefahrvoll ist. Schließlich geht es für sie unter die hohe Kuppel des Sechsmasten-Chapiteaus. Die dort gezeigten Figuren sind nicht ohne Risiko.


Shirley Larible, Skating Flash, Duo Kvas

Über der Manege schwebt auch Shirley Larible. Dort hängt das Netz, an dem sie ihre Luftakrobatik arbeitet. Es ist eine schöne Kür, die viele sinnliche Momente bereithält und zum Träumen animiert. Sie endet mit etlichen Umschwüngen an einer Schlaufe. Eine Rollschuhnummer muss nicht zwingend in großer Höhe stattfinden. Aber sie kann. Das beweist das Duo Skating Flash. Leo und Ursula jagen auf ihren Rollschuhen über ein Hochpodium. Dadurch bekommen die bekannten Tricks dieses Genres einen ganz neuen Reiz. Zudem wissen die Vertreter der Circusdynastien Rossi bzw. Dias, sich gekonnt in Szene zu setzen. Mit einem Kopf-auf-Kopf endet die starke Partner-Akrobatik des Duo Kvas. Dabei balanciert Vladimir Kostenko seinen Partner Anton Savchenko nicht nur im Stand, sondern setzt sich mit ihm auf dem Kopf zudem auf den Boden. Gleich darauf geht es in den Stand zurück. Schon zuvor haben die Ukrainer mit den Traumkörpern das Publikum mit einer ausgefeilten Abfolge anspruchsvoller Figuren begeistert.


Pavel Boyarinov, Fréres Taquins, Martin Bukovsek

Eine recht kurzfristige Umbesetzung gab es in der Kategorie Humor. Starclown David Larible lud auf den Plakaten und sonstigen Werbemitteln zum Besuch des Weltweihnachtscircus ein. Ende November entschied sich die Stardust International GmbH als Veranstalterin, vom Engagement Laribles abzusehen. Zu Beginn des Gastspiels sorgte nun Housh-Ma-Housch für den Humor. Wir erleben an diesem Abend Pavel Boyarinov sowie die Frères Taquins. Boyarinov ist ein poetischer Clown, ein Vertreter der klassischen russischen Schule. Seine Auftritte sollen zum Schmunzeln, zum herzlichen Lächeln animieren. Er erzählt kleine Geschichten, wie die von einem aufziehbaren Elefant, der sich als Hund entpuppt. Oder von einem zarten Schmetterling, der ein jähes Ende findet. Für weitaus lauteres Lachen sorgen da die Frères Taquins. Ein tüftelnder Professor und sein Automatenmensch, der sich letztendlich in eine Zuschauerin verliebt und mit ihr tanzt. Zusammen sorgen sie für die größten Lacher der Show. Das auch, weil Trampolin-Komiker Costin in der von uns besuchten Vorstellung verletzungsbedingt nicht dabei ist. Auf der Suche nach einem Nachfolger für den langjährigen Sprechstallmeister Peter Goesmann präsentiert Stardust wieder eine neue Besetzung. Der in der vergangenen Spielzeit eigentlich als dauerhafte Lösung eingesetzte Willer Nicolodi ist schon wieder Geschichte. Nun führt uns Martin Bukovsek durch das Programm. Der gebürtige Stuttgarter wirkt sympathisch und hat offenbar seine Hausaufgaben gemacht. Die Moderationen im bekannten Stil („Hier in Stuttgart.“) hat er perfekt drauf. Allerdings ist seine Stimmlage für diese Aufgabe nicht passend. Zudem kommt bei seinen hochdeutschen Moderationen immer wieder das Schwäbische durch. Das wirkt in einem so internationalen Programm jedoch deplatziert. Daneben fehlt es ihm noch an Ausstrahlung in diesem großen Rahmen. Umso schöner, wenn es in dieser Produktion andere Konstanten gibt: das wie erwähnt großartige Orchester von Markus Jaichner, das fulminante Lichtdesign von Christian Bock und die ausgereifte Regie von Patrick Rosseel. Und dann ist da noch die gute Seele des Weltweihnachtscircus: Hetty Vermeulen hat bislang alle 24 Ausgaben als Produktionsleiterin betreut.

In seiner aktuellen Ausgabe ist der Weltweihnachtscircus gewohnt hochkarätig besetzt. Die Spitzenposition in Deutschland verteidigt die Stuttgarter Stardust-Produktion spielend. Nur der Schwerpunkt hat sich in diesem Winter verschoben. Hin zu den kleineren, nicht minder großartigen Darbietungen. Das ist überaus reizvoll und nimmt der Show nichts von ihrer Wertigkeit. Es hält sie spannend. Und nicht zuletzt überrascht uns der Weltweihnachtscircus 2016/17 mit vielen Nummern, die hierzulande noch nicht zu sehen waren.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch