Um ein Haar wäre es vor zehn
Jahren vorbei gewesen mit der Geschichte des Dresdner
Weihnachts-Circus. Der Circus Busch-Roland als früherer
Veranstalter war insolvent, ein einst glanzvoller Name
verschwand. Der Dresdner „Schaustellerkönig“ Mario Müller-Milano
sprang ein, kaufte das verbliebene Material, tilgte die Schulden
und übernahm die Direktion. Den letzten Busch-Roland-Chef Filip
Kaiser beschäftigt er seitdem als technischen und künstlerischen
Leiter. Wer Müller-Milano für einen Strohmann halten wollte,
wurde schnell eines Besseren belehrt. Der selbstbewusste
Patriarch ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht nur formell
der Eigentümer ist. Vielmehr entwickelte er den Circus nach
seinen Vorstellungen weiter und führte ihn zu neuer Blüte. Mehr
als 80.000 Besucher wurden in der Saison 2019/20 gezählt. Zum
dritten Mal wurde im neuen 50-Meter-Chapiteau mit 2400 Plätzen
gespielt. Vor Jahresfrist feierte Müller-Milano seinen 70.
Geburtstag, heuer den 70. Gründungstag des Circus Milano, den
sein Vater Vilmos 1949 eröffnete und bis 1972 in der DDR führte.
Eine besondere Ehrung wurde Mario Müller Milano am 2. Januar mit
der Verleihung des Ernst-Renz-Preises – der höchsten
Auszeichnung der Gesellschaft der Circusfreunde – zuteil.
Roland Duss, Sara Biasini-Berousek
und Louis Knie jun., Truppe
Serbat,
Auch am letzten Gastspieltag
strömen die Massen auf den Volksfestplatz an der Pieschener
Allee. Da die allermeisten Sitzplätze nicht nummeriert sind,
drängt der Großteil schnell ins Chapiteau, anstatt die wirklich
umfangreiche Gastronomie zu genießen – schade. Immerhin werden
auch auf der Tribüne allerlei Leckereien vom Tablett verkauft.
Nach der Ouvertüre gehört die Manege Sara Biasini-Berousek.
Unter der Peitschenführung ihres Lehrmeisters Louis Knie jun.
reitet sie eine temperamentvolle Ungarische Post mit neun
Vorauspferden. Anstelle der Landesflagge schwenkt sie am Ende
eine Fahne mit Sponsorenlogo. Ein außergewöhnliches Genre hat
die fünfköpfige Truppe Serbat gewählt. Dabei steigen die
Untermänner eine fest stehende Leiter hinauf zu einer Plattform.
Auf der anderen Seite geht es über weitere Sprossen wieder
hinunter. Dies allein wäre freilich unspektakulär. Und so
erklimmen zum Auftakt zwei Herren das Requisit gleichzeitig von
links und rechts, während jeweils eine Partnerin auf ihren
Köpfen steht. Eine nur auf einer Hand. Auf der Plattform kreuzen
sich die Wege der beiden Paare. Es folgen weitere anspruchsvolle
Manöver, unter anderem die Kombination von Kopf-auf-Kopf und
Fußspitzen-auf-Kopf. Beim Schlusstrick ist es nur noch ein
Untermann, der über das Requisit steigt. Allerdings stehen nun
zwei Damen übereinander auf seinem Kopf. Die Nummer ist stark,
aber eher technisch als von Manegen-Persönlichkeiten geprägt.
Solche sind dagegen Roland und Petra Duss. Das Repertoire ihrer
drei Seelöwen mit vielen interaktiven Tricks ist weiter
unvergleichlich. Ein kleiner Hund gibt den Special Guest und
lässt sich ebenso gerne mit Fisch belohnen wie die Flossentiere.
Air Trio, Louis Knie jun.
Die drei Damen des AirTrio mit
ihrer Luftakrobatik am rotierenden Sechseck waren vor vier
Jahren einer der Überraschungserfolge im Heilbronner
Weihnachtscircus. Nun zeigen sie in der hohen Kuppel in Dresden
ihr Können. Dabei werden sie mit Livegesang begleitet. Anstatt
der fantastischen Musicalsängerin Anke Fiedler übernimmt diese
Aufgabe in der besuchten Vorstellung eine Vertreterin mit
weniger eindrucksvollen stimmlichen Qualitäten. Für den ersten
großen Höhepunkt der Vorstellung sorgt die Pferdenummer von
Louis Knie jun., die mit der Vorführung eines Schulpferdes am
Zügel beginnt. Es folgen Freiheitsdressuren mit erst sechs, dann
zwölf weißen und braunen Arabern und anspruchsvollen
Lauffiguren. Zum Karussell kommen drei Friesen hinzu. Louis Knie
dirgiert seine Rösser temporeich, temperamentvoll und höchst
elegant. Die Nummer gipfelt in einem Potpourri verschiedenster
Steiger, unter anderem mit dem sechsfachen Vorwärtssteiger. Und
nach der Pause folgt gleich das nächste Highlight, die bestens
bekannte gemischte Raubtiernummer von Alexander Lacey. Auf die
Übertragung der Kommandos des Tiertrainers per Mikrofon wird,
anders als im Zirkus Charles Knie, verzichtet. Neu für uns ist,
dass Lacey einen Tiger beim Vorwärtssteiger ohne Peitsche – nur
mit Händen und Stimme – dirigiert. Den Reigen der Tiernummern
beschließt Louis Knie jun. mit sechs gescheckten Kühen. Die
präsentiert er zu bayerischer Musik, aber doch lieber im edlen
Anzug als in Lederhosen. Die Tiere beherrschen einige Figuren
einer Freiheitsdressur und steigen mit den Vorderbeinen auf die
Manegenkästen.
Alan Sulc, Totti, Truppe,
Sokolov
Die Musik von „Lord of The Dance“ gibt
den Takt für Alan Sulcs großartige Bouncing-Jonglagen vor, die
er mit Stepptanz anreichert. Bis zu neun Bällen lässt er gegen
den Boden springen und fängt sie wieder. Längst ist aus dem
früheren Wunderkind ein charismatischer Künstler geworden. Und
letzteres ist ganz gewiss Totti Alexis. Ein großartiger
Entertainer, der zum vierten Mal in Dresden zu Gast ist. Im
ersten Auftritt erfährt er, was auf der Tribüne alles verboten
ist: Trompete spielen, singen, tanzen und einen kecken
Striptease hinlegen. Gemeinsam mit Ehefrau Charlotte wagt er
sich auf die „Theaterbühne“ und bringt eine spezielle Fassung
des Wilhelm Tell. Wie man ein voll besetztes Haus mitreißt,
regelrecht zum Kochen bringt, zeigt er uns, wenn er mitten im
Publikum zum Tigertanz aufruft. Da sind alle dabei. Zum
Mitmachen in die Manege muss dagegen keiner. Denn Totti ist
selber witzig. Anrührend das letzte große Entree, bei dem die
ganze Familie mitspielt: Totti, Charlotte und ihre Söhne Charly
und Maxim. Letzterer wurde vor fünf Jahren während des
Weihnachtsengagements in Dresden geboren und hat nun sein Debüt
in einer deutschen Manege. Damit erleben wir die 6. Generation
dieser traditionsreichen Familie von Spaßmachern. Und
Traditionen zählen etwas in Dresden. Denn in diesem klassischen
Programm gibt es noch den Sprechstallmeister, der jede Nummer
ausführlich ansagt. Nach einem Jahr Pause hat Petr Kumpfe diese
Aufgabe erneut übernommen. An Glanzzeiten des Circus erinnert
die große und grandiose Big Band von Oleksandr Krasyun, vor Ort
unter der Leitung von Vitaliy Pukish, die jeden Ton der
Vorstellung live spielt. Selbst das Mozart-Arrangement der
Truppe Sokolov! Dieses Ensemble zeigt praktisch alles, was auf
dem Schleuderbrett möglich ist. Dazu gehören Sprünge auf
Menschentürme, zur Bodenmatte und in den Sessel. Flüge und
Landungen auf einer und auf zwei Stelzen gehören genauso dazu
wie der ans obere Ende einer abenteuerlichen Konstruktion aus
Russischem Barren, Stelzen und Perchestange mit Sessel. Faszinierend ist die dichte Abfolge
von Spitzenleistungen in diesem minutiös durchchoreographierten
Zirkus-Weltwunder. In Kombination mit der live gespielten Musik – 14
Artisten agieren in der Manege, 15 Instrumentalisten spielen live
auf dem Podium – ergibt sich eine berauschende Sternstunde der
Circuskunst. Ein würdiger Abschluss dieses großen Programms. |