Der Primus unter
den hiesigen Weihnachtscircussen steht inzwischen vielmehr für
eine unterhaltsame, ausgewogene Show auf höchstem Niveau. Das ist auch im
Jubiläumsjahr nicht anders. Vor 30 Jahren öffnete der
Weltweihnachtscircus zum ersten Mal seine Zelte auf dem
Cannstatter Wasen. Produzent Henk van der Meijden brachte sein
Erfolgsmodell aus dem Amsterdamer Theater Carré nach Stutgart
und war von Anfang an erfolgreich. Seitdem durften die Zuschauer
in der baden-württembergischen Landeshauptstadt in jedem Winter die Besten der Besten erleben.
Viele davon beim letzten Circusfestival in Monte Carlo mit einem
Clown ausgezeichnet. Oder aber sie waren auf dem Weg an die Cote
d'Azur, um sich dort einen der begehrten Preise zu holen. So wie
im vergangenen Winter die Kolev Sisters. Aus der aktuellen Show
werden etwa die Flying Caballeros zum wichtigsten aller
Circusfestivals reisen und dort mit Sicherheit ganz oben
mitspielen.
 
Eintrittskarte für den Weltweihnachtscircus 1993/94, Finale
Henk van der
Meijden kümmert sich nach wie vor selbst um sein Baby. Die
eingangs zitierten Highlights stammen aus einem Interview der
Stuttgarter Zeitung mit ihm. An seiner Seite ist Ehefrau Monica
Strotmann. Doch die nächste Generation ist dabei, zu übernehmen.
Tochter Elisa van der Meijden und ihr Ehemann Dalien Cohen
komplettieren inzwischen das Team der Produzenten. Cohen hat die
Produktionsleitung für den Weltweihnachtscircus inne. Mit seinen
27 Jahren ist er gar jünger als die Veranstaltung selbst.
  
Björn
Gehrmann, Alex Michael, Svetlana Sazonenko
Gleich bei der
Eröffnungsparade wird dem Publikum das eindrucksvollen Ensemble
vorgestellt. Durch den hohen Artisteneingang strömen alle
Mitwirkenden in die Manege. Die Begrüßungsworte übernimmt Björn
Gehrmann. Der Ringmaster ist seit der Spielzeit 2017/18 dabei
und moderiert die Show gewohnt souverän. Seine Ansagen sind
sympathisch, informativ und geraten nie zu lang. Für die
musikalische Begleitung zeichnet das Orchester unter der Leitung
von Markus Jaichner verantwortlich. Dieses spielt wunderbare
Livemusik, so die Artisten nicht auf vorproduzierte Sounds
setzen. Die Regie hat einmal mehr Joseph Bouglione übernommen.
Das Lichtdesign wurde von Wim Dresens kreiert. Der artistische
Auftakt gehört Alex Michael. Ungesichert strapaziert er mit
Deckenlauf und Sprüngen von Trapez zu Trapez die Nerven der
Zuschauer. Diese dürfen in dieser Saison übrigens auf einem
optimierten, kompakteren Gradin Platz nehmen. Der ebenerdige
Mitteleingang entfällt, womit noch mehr Plätze mit frontalem
Blick auf das Geschehen zur Verfügung stehen. Von dort können
die Gäste etwa die folgende Pferdefreiheit von Alex Giona
genießen. Mit dezenten Gesten und verbalen Kommandos dirigiert
er seine Vierbeiner. Diese bewegen sich wie von Zauberhand
gelenkt über das Sägemehl, zeigen Soli und harmonische
Bewegungsabläufe in der ganzen Gruppe. Am Ende sind es vier
weiße und drei schwarze Pferde. Auf dem mittleren davon reitet
Alex Giona, während die anderen rechts und links von ihm
gemeinsam mehrere Runden durch die Manege laufen. Wunderschön
begleitet werden diese Bilder edler Dressurkunst durch
Violinistin Svetlana Sazonenko.
  
Chistirrin,
Duo Solys, Liza Kruitkova
Ebenfalls
musikalisch unterwegs ist Chistirrin. Und das mit Posaune,
Trompete, Saxofon und Trommel. Der Clown aus Mexiko ist
ungeheuer vielseitig, wobei neben seinem musikalischen vor allen
Dingen das komische Talent gefragt ist. Mit kindlicher
Unbeschwertheit treibt er seine Späße und hat es dabei faustdick
hinter den Ohren. Sein gestrenger Gegenspieler hat es alles andere
als leicht mit Chistirrin. Vertauschte Rollen machen den
besonderen Reiz der Partnerakrobatik des Duo Solys aus. Denn
hier übernimmt die Dame den tragenden Part. Tatiana Colaquy
trägt Hector Yzquierdo auf den verschiedensten Körperteilen. So
stemmt sie ihn etwa mit den Füßen in die Höhe oder hält ihn an
einem Arm. Ihr Markenzeichen ist der Trick unter Einbeziehung
eines Eiffelturm en miniature. Dieser ruht auf Tatianas Händen
und Beinen. Auf der Spitze zeigt Hector einen Kopfstand. Eine
quirlige Meute weißer und schwarzer Pudel haben Alex und Romy
Jostmann mit an den Neckar gebracht. Die Hunde sind mit vollem
Einsatz bei der Sache und warten nur darauf, ihr Können zeigen
zu dürfen. So etwa das Springen über Hürden oder durch einen
Ring. Einen solchen nutzt auch Liza Kruitkova als Requisit. Doch
strenggenommen ist ihr Luftring ein Achteck. Die daran möglichen
Kunststücke ähneln sich in beiden Varianten, neue kommen hinzu.
Und Liza Kruitkova nutzt die Gesamtheit der Möglichkeiten. Ihre
intensive Kür in beträchtlicher Höhe ist ungeheuer vielfältig
und leistungsstark. So verblüfft sie etwa mit einem Handstand
auf dem oberen Teil des Oktagons oder dem Fersenhang. Dabei ist
mehr als nur ein Schuss Risikofreude gefragt.
  
Maria
Sarach, Deadly Games, Nancy Stauberti
Die Aufmachung
ihrer Darbietung komplett verändert hat Maria Sarach. Im
Saisonprogramm 2023 des Circus-Theaters Roncalli und im
Wereldkerstcircus 2023/24 zeigte sie ihre Kombination aus
Handstandakrobatik und Kontorsion noch im Stil des
niederländischen Malers Piet Mondrian. Nun gibt sie die feine
Dame. Ihre Zigarette mit Zigarettenhalter bekommt nach der
Eröffnungssequenz Björn Gehrmann in die Hand. Dann begibt sie
sich auf die Handstäbe, die Teil eines geschwungenen Gestells
sind. Auch in dieser Version überzeugt Maria Sarach mit starker
Leistung in origineller Aufmachung. Schlusstrick ist der
Zahnstand, bei dem sie die Füße bis unter das Kinn bringt und
mit den Händen festhält. Tödliche Spiele, Deadly Games, wagen
Alfredo und seine neue Partnerin Coral. Er schnalzt ihr mit der Peitsche eine Blume
aus dem Mund, wirft Messer so an ein Brett, dass sie ganz knapp
neben ihrem Körper landen und zerschießt mithilfe einer Armbrust
einen von ihr gehaltenen Luftballon. Dabei geht es gefühlt noch
eine Spur gefährlicher zu als bei den meisten anderen Nummern
des Genres. Am Ende steht Coral in einer Art sich drehendem
Türrahmen, während in diesem die von Alfredo geworfenen Messer
einschlagen. Hoch hinaus geht es für Nancy Stauberti. Dies dank
ihres Onkels Dimitri. Das Duo Stauberti führt die
Familientradition der Percheakrobatik fort. Dabei kommt die
Stirnperche zum Einsatz. Während Nancy oben Hand- und Kopfstände
zelebriert, hält Dimitri sie im Gleichgewicht. Dabei steigt er
etwa zwei freistehende Leiterhälften hinauf oder fährt Einrad.
  
Aleksandr
Batuev, Flying Caballeros, Wuhan Acrobatic Troupe
Aleksandr Batuev
benötigt für seinen Auftritt nur eine Box aus Metall und diese
auch nur für seinen Schlusstrick. Ansonsten braucht er seinen
Körper, den er auf unglaublichste Weise verbiegt. Der
Klischnigger im smarten Businessoutfit scheint wirklich keine
Knochen zu haben. Er selbst bleibt ganz cool und faltet sich am
Ende so zusammen, dass er komplett in der Kiste verschwindet.
Während Svetlana Sazonenko und Weißclown Yann Rossi auf dem
Gradin musizieren, wird über der Manege das Sicherheitsnetz für
das Fliegende Trapez gespannt, die „große Nummer“ vor der Pause.
Dafür sind die Flying Caballeros aus Amerika angereist. Eine
Fliegerin, fünf Flieger und ein Fänger brillieren mit schier
unglaublichen Leistungen. Quasi zum Warm up gibt es verschiedene
Sprünge, die bereits anspruchsvoll sind. Spezialität der
Caballero-Familie ist aber der vierfache Salto. Gleich drei
Mitglieder springen ihn an diesem Abend – und landen ihn sicher
in den Armen des Fängers. Eine absolute Sensation der Circuswelt
wird hier gleich in dreifacher Ausfertigung präsentiert. Sollten
die Caballeros in Monte Carlo die gleiche Erfolgsquote hinlegen,
sollte der Goldene Clown reine Formsache sein. Die silberne
Variante konnte sich die Wuhan Acrobatic Troupe im Januar 2024
sichern. Mit ihrer „größten Russischen Schaukel der Welt“
eröffnen deren Mitglieder den zweiten Teil. Schon alleine der
Apparat hat enorme Ausmaße. Die Schaukel wird von massiven
Stützen gehalten. Von der schwingenden Plattform wagen die
Artisten hohe Sprünge, die sie auf einer Matte, wieder auf der
Schaukel oder auf den Schultern mehrerer Partner übereinander
landen. Am Ende wird oberhalb der Aufhängung der Schaukel eine
Plattform montiert, die weitere Tricks erlaubt.
  
Revolution
the Art of Dance, Duo Laos, Yann Rossi
Danach ist es an
Chistirrin und Partner, für Entspannung zu sorgen. Das tun sie
mit witzigen Jonglagen, bei denen Reifen und Keulen durch die
Luft fliegen. Auch Balancen auf einem Einrad sind zu sehen.
Bolaspiele größerer Formationen haben in den letzten Jahren eine
Renaissance in Circusmanegen erlebt. Mit Revolution the Art of
Dance erleben wir in Stuttgart eine rein weibliche Truppe. Neun
feurige Argentinierinnen kombinieren den gekonnten Umgang mit
den Boleadores mit dem Schlagen von Trommeln sowie Malambo-Tanz.
Sie transportieren eine ungeheure Energie, die jeden einzelnen
Zuschauer unmittelbar erreicht. Ihr Temperament kennt keine
Grenzen und ihre Choreographien sind eine wahre Augenweide. Für
die folgende Darbietung bleiben wir in Argentinien. Denn von
dort stammt das Duo Laos und im Stil dieses Landes ist die
Partnerakrobatik von Mercedes und Pablo choreographiert. Er in
schwarz und mit muskulösem Körper, sie in rot und eher zart,
aber nicht weniger trainiert. Es ist ein Gegen- und ein
Miteinander, in das die beiden sympathischen Artisten viele
eigenständige und starke Tricks integrieren. Dann darf Yann
Rossi die enorme Bandbreite seiner musikalische Fähigkeiten
demonstrieren. Er spielt unter anderem auf der Klarinette, auf
verschiedenen Saxofonen, auf einem Xylophon und auf der
singenden Säge. Die meisten der Instrumente werden dem Weißclown
im prächtigen Kostüm von Chistirrin und Partner gereicht.
  
Just Two
Men, Viktoriia Dziuba, Mooky
Just Two Men
nennen sich ganz schlicht Artem Lyubanevych und Oleg Shakirov.
Das ist eine sehr bescheidene Beschreibung für zwei Artisten mit
Traumkörpern und starken artistischen Fähigkeiten. Diese
demonstrieren sie unter der Kuppel an den Strapaten. Spektakulär
ist insbesondere der einarmige Handstand von Oleg auf dem Kopf
von Artem, während sich dieser im Spagat zwischen den Bändern
(unter Zuhilfenahme der Hände) ausbalanciert. Mit Viktoriia
Dziuba folgt eine meiner aktuellen Lieblingsnummern. Ihre
Equilibristik enthält nicht nur viele innovative, anspruchsvolle
Kunststücke und Bewegungsabläufe, sondern wird ungemein
ausdrucksstark gearbeitet. Mühelos schafft es die 22-jährige
Artistin, den großen Raum zu füllen. Das macht sie ganz ruhig,
fast schon introvertiert und doch folgen ihr die Zuschauer
gebannt. Weiter geht es mit der nächsten hinreißenden Dame.
Mooky ist alles andere als ruhig, vielmehr ist sie herrlich
witzig und von ansteckender Fröhlichkeit. Laut Programmheft ist
sie der erste weibliche Clown in der Manege des
Weltweihnachtscircus. Für eine Szene aus einem Theaterstück
sucht sie sich einen Mitspieler aus dem Publikum. Und der hat
sogar eine Sprechrolle. Seine Texte serviert ihm Mooky
mundgerecht auf kleinen Zetteln. Diese finden sich
beispielsweise auf der Schuhsohle oder ihrer Zunge. So
entspinnen sich irrwitzige Dialoge. Ein genialer Spaß!

China National
Acrobatic Troupe
21 Mitglieder der
China National Acrobatic Troupe bestreiten die grandiose
Schlussnummer. Was sie auf Fahrrädern zeigen, war so noch nie zu
sehen. Absolut innovativ, absolut spektakulär. Da gibt es
Fahrten auf zwei Rädern nebeneinander, darauf anspruchsvolle
Türme mit mehreren Artisten. Dann fährt ein Pferd aus Metall mit
angehängtem Wagen quasi „im Gegenlauf“ zwischen den Fahrrädern
hindurch. Bei den Begegnungen erleben wir atemberaubende
Sprünge. Anschließend formieren sich unzählige Akrobaten auf
jeweils einem Rad. Ein Artist springt von Schulter zu Schulter seiner
Kollegen, die hintereinander fahren. Das alles in einer
durchgehenden Inszenierung. Auch für die China National Acrobatic Troupe geht es im Anschluss nach Monte Carlo, auch sie
werden im Wettbewerb um die Clowns ganz oben mitspielen. Für uns
endet der Abend nach rund drei Stunden reiner Spielzeit mit dem
großen Finale. Dieses wird nochmal zu einem großen Rausch. Oder
vielmehr beendet es diesen. Denn die ganze Show war ein einziger
Rausch grandioser Circuskunst. |